
Heute einmal die Erzählung eines Gastwanderers, Domenico Cassata:
Wir schreiben den 6. September 2025. Es ist zehn vor sechs Uhr. Aus dem Lautsprecher meines Weckers „Poopy DE-221“ ertönen die Symphonischen Tänze von Rachmaninov. Um acht bin ich schon auf Gleis 7 des Karlsruher Hauptbahnhofs. Hier bin ich mit Herbert und seiner Wandergruppe aus Baden-Baden verabredet. Ich wandere zum ersten Mal mit dem Schwarzwaldverein Baden-Baden und bin daher etwas aufgeregt. Aber das legt sich schnell. Kaum sieht mich Herbert, reicht er mir wie ein alter Wanderkollege freudig seine Hand, um mich gleich seiner Wandergruppe vorzustellen.
Hieße ich Müller, Maier oder Schmitt würde keiner auf die Idee kommen, dass ich italienische Wurzeln habe. Eine Tatsache über die Herbert, -italienisch Eriberto,- höchst erfreut ist, denn er spricht zu meiner Überraschung Italienisch. Wieso das so ist, werde ich später erfahren. Nachdem wir ein paar Sätze ausgetauscht haben, kommt auch schon unser Regionalzug S32, um uns nach Münzesheim zu bringen.
„Was ist das eigentlich, der Kraichgau“, fragt der Autor Thomas Adams in seinem Buch „Kleine Geschichte des Kraichgaus“ um gleich darauf die Antwort zu geben. „Unter Kraichgau kann man alles das verstehen, was zwischen dem Neckartal im Osten und Norden sowie den Ausläufern des Schwarzwaldes – auf einer Linie von Ettlingen nach Birkenfeld und dann der Enz folgend bis Besigheim – im Süden liegt. Den Abschluss im Westen markiert die Geländestufe entlang der Grabenrandverwerfung zur Oberrheinischen Tiefebene.
Unsere Wanderung beginnt in Münzesheim und erstreckt sich über eine Länge von 17,3 Kilometern. Eriberto hat seine Tour abwechslungsreich gestaltet. Er führt uns in einem weiten Bogen souverän über Felder und Fluren, durch kleine Wälder und Hohlwege bis nach Unteröwisheim, wo unsere Wanderung endet.
Aber Eriberto wäre nicht Eriberto, wenn er nicht auch an die Kultur gedacht hätte; an die zahlreichen Sehenswürdigkeiten, die es überall in Kraichtal zu bewundern gibt. Der erste kulturelle Leckerbissen, den uns Eriberto darbietet, ist gleich hier in Münzesheim neben dem Therapiezentrum zu bestaunen und das ist der Asiengarten. Er gilt als einer der schönsten asiatischen Gärten Europas. Wir genießen für einen Moment in Eintracht die Schönheit und Ruhe des Gartens. Bevor wir unsere Wanderung fortsetzen, mache ich noch ein paar Aufnahmen von der Gruppe.
Petrus hat uns heute einen lichtdurchfluteten Spätsommertag beschert, der mir noch lange im Bewusstsein bleiben wird. Abgeerntete Ackerfelder neben Laubwäldern, Obstwiesen und Weinbergen, die auf die Weinlese warten. Jetzt fehlen nur noch die Mittelmeerzypressen in der Ferne, die sich geschmeidig auf bauchigen Hügeln und wellenförmigen Feldern winden, schon befände man sich irgendwo etwa zwischen Castellina in Chianti und Quercegrossa in der Toscana.
Inzwischen haben wir Münzesheim mit seinem geheimnisvollen Asiengarten hinter uns gelassen und arbeiten uns langsam den ersten Hügel hoch. Oben angekommen, eröffnet sich uns ein Panoramablick über die Dächer Münzesheims bis weit in die Oberrheinische Tiefebene. Schnell geht es weiter. An der Hühnerbuschhütte vorbei, streifen wir gegen Mittag das alte Novum Castrum Owensheim, heute unter dem Namen Neuenbürg bekannt. In den 70er Jahren wurde, wie sehr viele Ortschaften in Baden-Württemberg, auch Neuenbürg eingemeindet und zur Stadt Kraichtal erklärt.
Es geht bergauf und bergab. Wir überqueren die Jedermannstraße, die Neuenbürg mit Odenheim verbindet. Ob es auch eine Niemandsstraße gibt, frage ich mich. Für die Wagnerianer eine illustre Gegend, denn nicht weit von hier befindet sich der Siegfriedsbrunnen, an dem der Nibelungensage nach Siegfried getötet wurde. Wir stoßen auf eine Wegkreuzung mit diversen Wegschildern. Bis zum Pfannwaldsee sind es noch 800 Meter. Nicht weit davon entfernt geht es auf einen glitschigen Waldpfad, immer dem Kleinen Kraichbach entlang, durch einen dichten Laubwald. Gegen 13 Uhr erreichen wir den See, an dessen Ufer wir Rast machen. Der Pfannwaldsee ist kein natürlicher See, sondern ein Stauweiher mit einer Bauminsel in der Mitte. Er befindet sich mitten im Naturpark Stromberg Heuchelberg. Hier gibt es Wildkatzen, seltene Vögel und Schildröten. Eine davon sonnt sich gerade auf einem alten Baumstamm, der auf dem See treibt.
Gegen 13.30 Uhr verlassen wir gestärkt den Pfannwaldsee in Richtung Sternwarte. Eriberto führt uns durch die sogenannte Galgenhohle – ein Hohlweg, von dem es in dieser Gegend einige gibt. Geologisch gesehen befinden wir uns jetzt im letzten Zeitabschnitt des Känozoikums (Erdneuzeit) das Quartär, welches vor 2,5 Millionen Jahren begann und bis heute andauert. Was wir hier sehen, sind Lösssedimente, die den ganzen Kraichgau überdecken. Dadurch blieben viele prähistorische Fossilien im Erdboden erhalten. Der Kraichgau ist nicht nur das Land der 1000 Hügel, sondern auch das Land mit der berühmtesten Kinnlade der Welt. 1907 fand man unweit von Mauer (Wiesenbach) im Gewann Grafenhain, in einer dieser Lössschichten einen Unterkiefer, der lange Zeit als das älteste Relikt eines Hominiden in Europa galt (Homo heidelbergensis).
Am Ende des Hohlweges geht es nach einem kurzen Stück asphaltierter Straße gleich steil die Weinberge hoch. Von weitem kann man schon die Sternwarte sehen. Oben angekommen, reicht der Blick über die Ausläufer des Nordschwarzwaldes hinaus bis zum Murgtal und der Hornisgrinde.
Der Sternwarte ist ein Astronomiepark mit einer Fläche von 4000 qm angeschlossen. Auf der Fläche sind verschiedene astronomische Systeme arrangiert. Was in der Geologie die Unermesslichkeit der Zeiträume ist, ist in der Astronomie die Unermesslichkeit der Entfernung. Am Ende des Tages gehe ich mit der Erkenntnis nach Hause, dass das Leben ein großes Mysterium bleibt, ganz gleich, wie sehr wir Menschen uns bemühen, es zu verstehen. Mille Grazie Eriberto.
Text: Domenico Cassata Fotos: Herbert Kretz